Der Autor dieses Artikels, RA Dr. iur. Jacob Bollag, ist Legal Counsel bei Dr. J. Bollag & Cie. AG und hat sich mit der Thematik rund um den virtuellen Erben vertieft im Rahmen einer Dissertation auseinandergesetzt.
Das Pflichtteilsrecht und die Verfügungsfreiheit im schweizerischen Erbrecht
Das schweizerische Erbrecht sieht im Gegensatz zu vielen ausländischen Rechtsordnungen ein Pflichtteilsrecht bestimmter Personen aus dem Familienkreis des Erblassers vor. Namentlich sind dies der Ehegatte und die Nachkommen, sowie bei Fehlen von Nachkommen die Eltern des Erblassers.[1] Der Pflichtteil ist eine gesetzlich festgelegte Quote des Nachlasses, auf den die Pflichtteilserben einen gesetzlich geschützten Anspruch haben. Hintergrund des Pflichtteilsrechts ist der Schutz der Familie bzw. die familieninterne Solidarität als auch die Sicherstellung der wirtschaftlichen Versorgung der Hinterbliebenen. Nur in wenigen Fällen kann der Erblasser einen Pflichtteilserben enterben und ihm damit den Anspruch auf seinen Pflichtteil entziehen. Eine gültige Enterbung ist nur möglich, wenn der Pflichtteilserbe eine schwere Straftat gegen den Erblasser oder gegen eine dem Erblasser nahestehende Person begangen oder seine familienrechtlichen Pflichten gegenüber dem Erblasser oder dessen Angehörigen schwer verletzt hat.[2] In allen anderen Fällen wird der Pflichtteilsanspruch gesetzlich geschützt.[3]
Demgegenüber soll der Erblasser möglichst frei über seinen Nachlass verfügen können. Dieses wichtige Prinzip des schweizerischen Erbrechts – die Verfügungsfreiheit des Erblassers – steht dem Pflichtteilsrecht diametral entgegen. Dieser Widerspruch wird dadurch abgeschwächt, dass pflichtteilsverletzende Verfügungen des Erblassers nicht per se ungültig sind, sondern bestehen bleiben, bis diese gerichtlich angefochten und aufgehoben wurden. Entscheiden sich die übergangenen Pflichtteilserben also die pflichtteilsverletzende Verfügung von Todes wegen nicht anzufechten, bleibt diese gültig bestehen.
Der Ausschluss aus der Erbschaft
Die Anforderungen an eine gültige Enterbung sind hoch. Es mögen triftige Gründe vorliegen, weshalb ein Erblasser einem Pflichtteilserben nichts hinterlassen will, in der Regel genügen diese jedoch nicht für eine gültige Enterbung. In einem solchen Fall kann der Erblasser den Pflichtteilserben mittels Testaments oder Erbvertrags schlicht von der Erbschaft ausschliessen oder ihn einfach übergehen und ihn damit zu einem sogenannten virtuellen Noterben machen. Der Erblasser sollte sich dabei allerdings bewusst sein, dass der Pflichtteilserbe das Testament oder den Erbvertrag gerichtlich anfechten kann, beziehungsweise muss. Der Erblasser kann einzig darauf hoffen, dass die Notwendigkeit einer Klage mit allen damit verbundenen materiellen und immateriellen Umständen eine genügend hohe Hürde darstellt, dass der vollständig ausgeschlossene Pflichtteilserbe von einer Anfechtung absieht. Möglich ist stets auch, dass der Pflichtteilserbe die Frist zur Anfechtung schlicht verpasst. Die Erfolgschancen einer Klage des vollständig übergangenen Pflichtteilserben sind in der Regel aber als sehr gut einzustufen.
Der wertmässige Anspruch auf den Pflichtteil
Im Zusammenhang mit der Klage des übergangenen oder ausgeschlossenen Pflichtteilserben ist ein spezielles Augenmerk auf allfällige lebzeitige Zuwendungen des Erblassers zu legen. Denn die Pflichtteilserben haben lediglich Anspruch darauf, dass sie ihren Pflichtteil dem Werte nach erhalten. Dementsprechend werden den Pflichtteilserben gewisse lebzeitige Zuwendungen wertmässig auf ihren Pflichtteil angerechnet. Ist ihr Pflichtteil durch diese Zuwendungen vollständig gedeckt, ist eine gerichtliche Anfechtung nicht mehr möglich. Gleiches gilt für die Ausrichtung des Pflichtteils in Form eines Vermächtnisses. Der Vermächtnisnehmer erhält keine Erbenstellung, sondern hat lediglich eine Forderung gegenüber der Erbschaft. Entspricht das Vermächtnis mindestens dem Pflichtteil, ist eine Anfechtung des Testaments oder Erbvertrags aussichtslos, da sein Pflichtteil wertmässig durch das Vermächtnis gedeckt wurde.
Fazit
Ohne Vorliegen von Enterbungsgründen kann der Erblasser einen Pflichtteilserben also nur dann endgültig von der Erbschaft ausschliessen, wenn sein Pflichtteil entweder durch bestimmte lebzeitige Zuwendungen oder durch ein Vermächtnis betragsmässig vollständig gedeckt wurde. In allen anderen Fällen besteht stets das Risiko einer Anfechtung durch den übergangenen Pflichtteilserben. Konsequenz eines Ausschlusses aus dem Testament oder Erbvertrag ist, dass dem Ausgeschlossenen keine Erbenqualität zukommt. In der Praxis wird deshalb häufig auf dieses Instrument der Erbplanung zurückgegriffen, um zu verhindern, dass ein querulatorischer Pflichtteilserbe nicht Erbe wird und damit auch keine Mitsprachemöglichkeit in der Erbengemeinschaft hat. Umgekehrt kann damit aber auch ein Pflichtteilserbe davor bewahrt werden, sich mit den anderen Erben auseinandersetzen zu müssen. Der Erblasser kann ihn mittels Vermächtnisses aus dem Nachlass begünstigen, ohne ihn gleichzeitig zu einem Erben zu machen. Damit haftet der ausgeschlossene Pflichtteilserbe im Übrigen auch nicht für die Erbschaftsschulden im Gegensatz zu den Erben.
Die Spielarten des Erbrechts sind vielfältig und es sind stets nicht nur die monetären Auswirkungen von Verfügungen von Todes wegen, sondern auch die seelischen und emotionalen Komponenten zu berücksichtigen. Nach seinem Ableben kann der Erblasser seinen Erben die Beweggründe für seine Verfügungen von Todes wegen nicht mehr erklären, weshalb bei der Formulierung eines Testamentes oder Erbvertrages stets die notwendige Aufmerksamkeit und Sorgfalt geboten ist.
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[1] Art. 471 ZGB.
[2] Art. 477 ZGB.
[3] Vorbehalten bleiben die Fälle der Erbunwürdigkeit nach Art. 540 ZGB.
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